«Lernen, das Gerät ohne Tobsuchtsanfall abzuschalten»

In seinem Buch «Das Verschwinden der Kindheit» warnte der bekannte Kommunikationswissenschaftler Neil Postman schon Ende der Achtzigerjahre vor dem Verschwinden der Kindheit – und bezeichnete die elektronischen Medien als Beschleuniger dieser Entwicklung. Wie verändern, rund 40 Jahre nach Postmans Warnruf, die sozialen und digitalen Medien unsere Kindheit? Dazu forscht Dr. Eva Unternährer* an den UPK Basel.

Als Neil Postman sein Buch veröffentlichte, gab es die sozialen Medien noch nicht. Eva Unternährer, kam alles noch viel schlimmer?
Eva Unternährer: (Lacht) Das Buch habe ich leider (noch) nicht gelesen. Aber Spass beiseite. Ich glaube, man muss hier erstmal die Begriffe präzisieren. Geht es um soziale Medien, also Insta, SnapChat, TikTok, Facebook und Co., oder um digitale (Bildschirm-)Medien wie etwa Smartphone, Tablet, Computer oder Fernsehen? Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass weder das eine noch das andere unseren Kindern die Kindheit stiehlt. Sondern es geht eher darum, wie wir digitale und soziale Medien nutzen, insbesondere im Familienalltag.

Aber es gibt keinen Medienkonsum ohne Konsequenzen?
Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass ein exzessiver Konsum von Bildschirmmedien in der frühen Kindheit mit negativen Konsequenzen für die kindliche Entwicklung zusammenhängen könnte. Auffällig ist auch, dass ein problematischer Bildschirmkonsum von Kindern im klinischen Setting, auch an den UPK oder dem UKBB, oft beobachtet wird. Welche Mechanismen den Zusammenhang zwischen Bildschirmkonsum und kindlicher Entwicklung erklären könnten, bleibt aber Gegenstand weitere Forschung.

Was ist denn besonders problematisch?
Bei älteren Kindern und Jugendlichen sind es üblicherweise soziale Medien und Online-Gaming, die in Verruf stehen, unterschiedliche Schwierigkeiten zu verursachen. Bei den sozialen Medien ist es vor allem das permanente Teilen und Vergleichen, das in dieser wichtigen Entwicklungsphase zu vermehrtem Stress führen kann. Hier hängt es aber wahrscheinlich auch davon ab, wie gut die Kinder und Jugendlichen medienpädagogisch begleitet sind. Die Studienlage ist hier noch nicht so weit, um eindeutige Aussagen zu treffen.

Sie forschen zurzeit selbst an zwei Studien an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Forschungsabteilung der UPK. Können Sie dazu schon etwas Konkretes sagen?
Für wissenschaftlich abgesicherte Aussagen ist es noch zu früh, denn die Untersuchungen im Verhaltenslabor haben wir erst kürzlich beendet. In der SMARTIES-Studie geht es insbesondere um elterliches Phubbing. Phubbing kommt aus dem Englischen und bezeichnet das Ignorieren des Gegenübers zugunsten des Smartphones. Was passiert, wenn Eltern während sozialen Interaktionen mit ihren Kindern am Smartphone sind? In der SWIPE-Studie geht es darum, wie Kinder unter sechs Jahren digitale Medien nutzen. Dabei untersuchen wir nicht nur die Zeitdauer, sondern berücksichtigen auch den Inhalt und den Kontext. Was tun die Kinder an ihren Geräten und wann, weshalb – und mit wem nutzen sie diese?

Der richtige Medienkonsum ist ein Dauerbrenner und beschäftigt nicht nur Forschende und Eltern. Ab wann gilt der Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen als problematisch?
Es gibt dazu noch keine klaren diagnostischen Kriterien und die Diagnose «digitale Mediensucht» gibt es bisher nicht. Wie bei vielen anderen psychischen Störungsbildern und Verhaltenssüchten würde ich aber sagen, dass ein Konsum dann problematisch ist, wenn es zu Vernachlässigungen von sozialen Kontakten und anderen Aktivitäten kommt und ein Leidensdruck besteht.

Wie können Erwachsene die Jungen vor einem ungesunden Konsum schützen?
Eltern können einen achtsamen, verantwortungsvollen digitalen Medienkonsum vorleben und klare Regeln mit den Kindern vereinbaren, welche dann aber auch für alle gelten: zum Beispiel keine Geräte am Esstisch oder in der Stunde vor dem Schlafen gehen. Auch «Bildschirmzeiten» können sinnvoll sein, sowie die Medienbegleitung von jüngeren Kindern. Der gemeinsame Bildschirmkonsum mit aktiver inhaltlicher Auseinandersetzung (man spricht über das Gesehene) ist übrigens bisher eine der wenigen Formen von Bildschirmkonsum, für welchen man positive Effekte in wissenschaftlichen Studien zeigen konnte. Aufgrund der Geschwindigkeit der heutigen Cartoons kann die aktive Begleitung für Eltern aber natürlich ganz schön herausfordernd sein.

Und welchen Rat geben Sie Schulen und Fachleuten?
Lehrpersonen und Pädagogen können schulpflichtige Kinder und Jugendliche unterstützen, indem sie medienpädagogische Inhalte im Klassenzimmer thematisieren. Zum Beispiel, wie man sich gegen Cybermobbing wehren kann. Man könnte auch gemeinsam einen Knigge für die Nutzung sozialer Medien erarbeiten.
Fachpersonen und Ärzten rate ich, den digitalen Medienkonsum in aufsuchenden und Routine-Untersuchungen anzusprechen und falls nötig in der Behandlung zu berücksichtigen. Das Sprechen über soziale Medien, Lieblings-Youtuber oder Videospiele kann manchmal sogar hilfreich sein, um Zugang zur Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen zu erhalten.

Vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) wird die «3-6-9-12»-Faustregel empfohlen: Kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet erst nach 9 und soziale Netzwerke nach 12. Ein guter Rat?
Wenn man eine einfache Faustregel sucht, ja. Allerdings ist jedes Kind einzigartig. Spricht man mit dem Kind über Raketen, kann man ruhig mal einen Raketenstart gemeinsam auf Youtube anschauen, auch mit einem etwas jüngeren Kind, also alltagsrelevant und in Form einer gemeinsamen Aktivität. Beim Internet und bei sozialen Netzwerken ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die Kinder die entsprechenden Medienkompetenzen bereits im Vorfeld erworben haben. Ich würde einen 12-Jährigen erst dann unbegleitet auf soziale Netzwerke lassen, wenn er die Chancen und Risiken kennt: Chattet man mit Freunden oder Cyberkriminellen oder ist das dargestellte Leben des Lieblings-Influencers auch wirklich real? Für alle Altersgruppen gilt, dass die digitalen Aktivitäten nicht zu viel Raum einnehmen sollten; die Menge macht oft das Gift. Kinder und Jugendliche müssen ihre Geräte auch mal bewusst abschalten – ohne Tobsuchtsanfall oder Entzugssymtome.

Stichwort Medienkompetenz: Was können oder sollten Schulen und Ausbildungsstätten tun?
Es gibt tolle Programme, welche präventiv ansetzen. Ich bin seit kurzem zum Beispiel mit «zischtig.ch» unterwegs. Hier bieten Fachleute unterhaltsame medienpädagogische Programme für Kinder, Jugendliche und Eltern an. Auch die Polizei und andere Organisationen offerieren Präventionsprogramme für Schulen. Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, wenn Lehrpersonen wachsam sind, was im Klassenzimmer in Bezug auf soziale Medien und Gaming so läuft. Falls nötig, Probleme ansprechen oder sich externe Unterstützung holen.

Gibt es eigentlich grosse länderspezifische Unterschiede punkto Medienkonsum?
Eine gute Frage, wahrscheinlich schon, aber grundsätzlich finden die meisten Kinder und Jugendliche digitale Medien toll, unabhängig von Land und Kultur. Wahrscheinlich ist es vor allem eine Frage des Zugangs zu Art und Inhalt digitaler Medien. In einem internationalen Konsortium von Forschenden geht man dieser Frage nach, wobei die Schweiz meines Wissens (noch) nicht mit dabei ist. Wir sind mit der Gruppe jedoch in Kontakt und überlegen, wie wir einen Anschluss ans Konsortium finanzieren könnten.
Gewisse Länder haben inzwischen übrigens auch Gesetze in Kraft oder in Abklärung, um Kinder vor digitalen Medien zu schützen. In Taiwan werden Eltern gebüsst, wenn ihre Kinder wegen zu viel Bildschirmzeit physische oder psychische Beschwerden haben. Und in Florida prüft man, soziale Medien für unter 16-Jährige zu verbieten. In der Schweiz wird aktuell diskutiert, ob ein Verbot von Smartphones an Schulen sinnvoll ist.

Für was plädieren Sie?
Wir brauchen sicherlich noch mehr Forschung, um besser sagen zu können, welche Faktoren genau dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche negative Konsequenzen durch digitalen Medienkonsum erfahren. Meiner Meinung nach spielen vor allem unsere digitalen Gewohnheiten eine zentrale Rolle: Konsumieren wir passiv und ohne jegliche Kontrolle, oder nutzen wir digitale Medien gezielt als Werkzeuge, um unseren Alltag zu erleichtern, kreativ zu sein oder unsere Beziehungen zu pflegen?

*Dr. Eva Unternährer forscht an den UPK Basel zur Mediennutzung von Familien. Aktuell laufen unter ihrer Leitung die Studien «SMARTIES» (Auswirkungen des elterlichen Konsums digitaler Medien auf sozio-emotionale Entwicklung von Kindern) und «SWIPE» (Digitaler Medienkonsum von Kindern im Alter von 0 bis 5 Jahren). Interessierte Eltern können noch an den Onlinestudien teilnehmen.

Tipps zum Umgang mit digitalen Medien im Familienalltag finden sich auch auf zischtig.ch.

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